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Channel: Wiener Alltagsbeobachtungen
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Relationen wahren

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Die Wahl ist geschlagen. Mit Erleichterung darf man feststellen, dass das kolportierte Kopf-an-Kopf-Rennen keines war und die Gelassenheit bzw. eindeutige Positionierung von Bürgermeister Häupl erfolgreich war.

1. Rechtspopulisten mit lauter Einzelfällen gewinnen an Macht hinzu

Nicht so gut ist der Wahlausgang trotzdem. Die FPÖ hat die 30 %-Marke übersprungen und blockiert mit 34 Mandaten nun die 2/3-Mehrheit der anderen Parteien, d.h., das von Rotgrün geplante Ausländerwahlrecht ist nun Geschichte. Ebenso können sie einen Untersuchungsausschuss einberufen zu allen möglichen Themen, wo sie glauben, Ausländer werden gegenüber der authochtonen Bevölkerung mit wienarischem Blut bevorzugt.

Die zweitstärkste Kraft in Wien darf außerdem den Vizebürgermeister stellen. Dieser ist zwar abhängig von der Koalition, d.h. wenn sie nicht den Koalitionspartner stellt, ist der Vizebürgermeister nicht amtsführend, sondern der zweite Vize. Dennoch bekleidet mit J.G. nun ein dem rechtsaußen Flügel zugehöriger FPÖler das repräsentative Vizebürgermeisteramt.

Von J.G. stammen so illustre Aussagen wie hier:

Quelle: http://www.sosmitmensch.at/site/home/article/1094.html
Im Magazin DATUM ist bereits vor Jahren ein Portrait erschienen. Kein weitererer Kommentar.

2. Nichtwahlberechtigte stärkste Kraft

380 000 potentielle WählerInnen über 16 Jahren waren nicht wahlberechtigt, während 288 000 wahlberechtigt waren, aber nicht gewählt haben. Insgesamt gingen so fast die Hälfte der Bewohner Wiens im wahlfähigen Alter VERLOREN. Nachdem die FPÖ angekündigt hat, das Ausländerwahlrecht zu blockieren (bei der Passegalwahl mit 1200 abgegebenen Stimmen kamen ÖVP und FPÖ zusammen nur auf 2 %), wird man um diese Wählerschaft nicht buhlen können, außer sie verdient genug, um die Bedingungen für das Staatsbürgerschaftsgesetz zu erfüllen, und holt sich das Wahlrecht damit selbst. Bleiben die NichtwählerInnen, die offenbar enttäuscht sind, sich nichts erwarten, aber nicht einmal ungültig wählen wollen.




Und gemeinsam mit den NichtwählerInnen kommen die ProtestwählerInnen, die zur FPÖ übergelaufen sind - leider die einzige Protestpartei in Österreichs seit Jahrzehnten mit signifikantem Wähleranteil.

3. Alles Nazis, oder doch nicht? 

In meiner Wahrnehmung gibt es zu viele (teils verurteilte) Einzelfälle, die dem Rechtsextremismus nahestehen. Es gibt einen starken deutschnationalen Flügel und viele der amtierenden Politiker sind in schlagenden Burschenschaften, die zum Teil vom DÖW (Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands) als rechtsextrem eingestuft werden. Das kann man nicht wegleugnen - und obige Aussagen und Zitate auch nicht.

In meiner Wahrnehmung hat die Aufarbeitung bzw. Vergangenheitsbewältigung in Österreich längst nicht in der Intensität stattgefunden wie in Deutschland (dass es gerade dort jetzt zu so viel Hass & Gewalt kommt, sehe ich als Folge der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die ausgerechnet mit rotgrün begonnen hat, und die soziale Kluft extrem verschärft hat. Das Aussterben von Zeitzeugen kommt eventuell auch noch hinzu.), und es besteht offenbar für signifikant viele Protestwähler kein innerer Konflikt eine Partei zu wählen, die gegen Ausländer und Flüchtlinge Stimmung macht. Für mich wäre das undenkbar, aber in Deutschland gibt es auch eine inzwischen starke Linkspartei, die in Österreich schlichtweg fehlt.

Und dann gibt es neben den ideologisch mit der FPÖ verwurzelten Wählern eben jene Wähler, "die Angst haben", "die sich alleine gelassen fühlen", "die enttäuscht davon sind, dass die Großparteien nur auf Machterhalt schauen und alles schönreden." Und nein, das sind keine Nazis. Man kann sie als dumm oder naiv bezeichnen, weil sie glauben, die FPÖ sei eine Alternative, als ob mit einem blauen Bezirksvorsteher jetzt alle Zuwanderer aus dem Gemeindebau ziehen würden oder rausgeworfen werden, oder überhaupt aus Wien wegziehen. Das ist utopisch. Und ihnen jetzt das Leben schwer zu machen, hilft NULL bei der Integration. Klar, hier hat die Regierung versagt bzw. die Leute offenbar nicht "abgeholt", ihnen nicht zugehört.Wie man leider immer wieder sieht, kommt man mit Sachargumenten nicht weiter. Es nützt nichts, die Vorurteile gegenüber Migranten zu entkräften, weil die nicht ausschließlich das Problem sind. Das Problem ist viel mehr, dass man ignoriert, dass die Protestwähler offenbar Probleme haben, eine Arbeit zu finden, eine leistbare Wohnung. Und ja, Integration spielt auch (!) eine Rolle. Aber dann muss man auch auf sie zukommen. Und wie etwa Duygu Özkan in ihrem Buch "Türkenbelagerung" schrieb, werden von der österr. Regierung unreflektiert türkische Vereine unterstützt, die unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit fragwürdige Ideologien (z.B. nationalistisches Gedankengut) verbreiten. Auch das sollte man mal hinterfragen, aber statt ein ''Islamgesetz'' hinterherzupfeffern, könnte man nachdenken, wie man zusammenarbeiten könnte. Und ohnehin gehört ein eigenes Ministerium her, in dem Integration und Migration angesiedelt sind. Diese Denkanstöße sind bei weitem nicht vollständig.

Kernaussage ist: Zu beweisen, dass die FPÖ rechts ist, interessiert viele Wähler offenbar nicht, entweder weil sie ihre Probleme wichtiger nehmen oder weil mangels Aufarbeitung der NS-Zeit kein Unrechtsbewusstsein über bestimmte Aussagen oder Forderungen vorhanden ist. Also muss man sich überlegen, wo die wahren Probleme liegen. Das sind bestimmt nicht die Migranten in der Straßenbahn, "das sich fremd fühlen". Da kann man tolerant sein. Warum diese Toleranz fehlt, ist die Frage. 

4. Gebrochene Versprechen?

Ich muss zugeben, ich hab das besagte Plakat gar nicht mitbekommen. Generell interessieren mich Plakate nicht, weil dort entweder gelogen wird oder utopische Wünsche geäußert werden. Mahü und Öffi-Jahreskarte waren offenbar keine starken Zugpferde der grünen Werbestrategen - nicht, wenn es dringendere Probleme gibt. Und dass die Autofahrer verärgert sind, wenn der Öffiverkehr auf ihre Kosten ausgebaut wird, no na. Und für Pendler fehlt mitunter auch das Zuckerl, um auf die Öffis umzusteigen. Gerade in den Randbezirken sind etwa Bus- und Straßenbahnverbindungen nicht immer optimal, und wer nicht von 9-17 arbeitet, sondern früher anfängt und länger bleibt, hat dann Mühe überhaupt in die Stadt oder wieder nach Hause zu kommen. Da kann man sicher noch etwas tun, und Infrastruktur ausweiten. Dann überzeugt man auch leichter die Skeptiker. Und die Mahü betrifft einen Bezirk und ein bisschen die Umfahrung, aber interessiert den blauen Wähler in Transdanubien oder Favoriten wahrscheinlich herzlich wenig. Plakate mit dem Thema Arbeit hätten diese Wähler vielleicht mehr angesprochen.

Wobei man auch sagen muss, dass der Protestwähler ignoriert oder nicht weiß, dass u.a. auch von den Grünen viele Entscheidungen mitgetragen wurden, um Armut, hohe Wohnungskosten zu bekämpfen und bessere Aufstiegsschancen in der Schule zu ermöglichen. Zahlreiche Beispiele finden sich in einem Leitkommentar von Martin Schenk im aktuellen (14.10.15) AUGUSTIN, hier ein Auszug, wo die FPÖ gegen alle diese Entscheidungen gestimmt haben.



 Zurück zur Vizebürgermeisterin... sie deutete an, dass sie bei Verlusten zurücktritt.


In einem Klartext-Interview relativiert sie ihre Aussage und verdeutlicht, dass sie zurücktreten würde, sollte es nicht erneut für eine rotgrüne Koalition langen, d.h., wenn die Verluste so groß werden, dass eine Koalition nicht mehr möglich wäre. Nach dem amtlichen Endergebnis gibt es einen dünnen Verlust von 0,8 %, wobei das ausgerufene Kopf-an-Kopf-Rennen dazu geführt hat, dass viele Grünwähler aus Angst vor Strache lieber Rot gewählt haben, auch "Leihstimmen" genannt. Besonders deutlich unter die Räder gekommen sind die kleineren Parteien (Grüne, ÖVP, NEOS) in den Flächenbezirken (10.,11.,21.,22), wo es das Kopf-an-Kopf-Rennen auf Bezirksebene auch gegeben hat.

Ich führe den Verlust nicht auf eine schlechte Politik der Grünen zurück, sondern auf Fehler im Wahlkampf, auf unglückliche Plakate bzw. auf Plakate, die an den Sorgen vieler Wähler vorbeigehen. Das ist aber kein Phänomen von 2015, sondern gab es schon bei den Wahlen davor. Und nachdem mehr Umweltschutz, mehr öffentlicher Verkehr in Zeiten des Klimawandels und deutlich verfehlter Klimaziele Österreichs wichtiger denn je sind, halte ich den Ansatz der Grünen auch für richtig. Und den Rücktritt angesichts dessen, was zu tun ist, für eine sekundäre Personalie, die Inhalte sind jetzt wichtiger. Und für die Zukunft weiß sie und auch der Rest der Grünen hoffentlich, dass man solche vorschnellen Versprechen nicht abgibt, wenn man nicht weiß, welche Themen wahlentscheidend werden (hier das Asylthema, das gar nicht auf Landesebene gelöst werden kann), und vielleicht auch bei anderen Parteien jetzt etwas mehr Milde walten lässt.

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