Quantcast
Channel: Wiener Alltagsbeobachtungen
Viewing all articles
Browse latest Browse all 209

Zu welcher Minderheit zählst Du?

$
0
0
Der Boulevard regiert in Österreich

In Österreich werden zwei Drittel des Zeitungsmarkt von Boulevardzeitungen beherrscht. Sie zeichnen sich durch - no na net - durch politische Beeinflussung und Kampagnenjournalismus aus. Die Texte sind in einfacher Sprache geschrieben, leicht verdaulich, auf Mainstream-Themen angepasst, bedienen sich gerne Schock- und Ekelthemen, um die Auflage zu steigern. Die Texte dürfen nicht zu lang sein, weil etwa die Gratis-U-Bahn-Zeitung vorwiegend während der Öffi-Fahrt konsumiert wird, weil (Beinahe-)Gratis-Boulevardblätter von Migranten wegen der leichteren Verständlichkeit bevorzugt werden. Die Recherche ist grundsätzlich hinterfragenswürdig, die Inhalte werden nicht selten dem Österreichischen Presserat vorgelegt, weil sie wieder einmal gegen den Kodex verstoßen haben, weil die Privatsphäre nicht geschützt, der Werther-Effekt missachtet oder Hass gegen Minderheiten geschürt wurden.

Leistungsgedanke gesellschaftlich unterstützt

Fasst man die Situation in Österreich zusammen, dann liest gut die Hälfte der Wähler, wenn nicht sogar mehr, die für die Dominanz von schwarzblau verantwortlich sind, Boulevard. Die konservativ bis rechtsextremen Parteien (ja, für mich als Deutschen ist die FPÖ rechtsextrem, auch wenn das in Österreich noch hundert Mal heruntergespielt wird) sind für das Negativbild von Minderheiten mitverantwortlich. Sie propagieren Integration durch Leistung, sie verweigern Menschen, die durch den Rost des Gesundheitssystems fallen, die entsprechende Anerkennung ihrer Beschwerden, die Kassenleistung (etwa, wenn es um Psychotherapie geht), sie beurteilen Menschen nur nach ihrem Nutzen für die Wirtschaft. Die SPÖ, die seit Jahrzehnten mit wenigen Unterbrechungen mit der ÖVP koaliert, trägt diesen Leistungsgedanken mit, macht sich mitschuldig an den Verhältnissen. Jugendorganisationen verkommen zu Kaderschmieden. Visionen bleiben sie schuldig. In so einem Vakuum sozialer Gerechtigkeit wuchert die Diskriminierung gegen alle Minderheiten, gegen Migranten, gegen Flüchtlinge, gegen psychisch Kranke, gegen körperliche Behinderung. Firmen zahlen lieber höhere Abgaben als Menschen mit Behinderung einzustellen. Die Werbung propagiert die Norm, die Perfektion, den Menschen ohne Makel.

Journalistische Texte werden kürzer

Zurück zu den Zeitungen: Kurze Texte sind en vogue. Sie passen leichter auf mobile Geräte. Sie sind leichter verdaubar, sie benötigen bloß eine kurze Aufmerksamspanne. Unser Gehirn hat sich durch das Internet längst verändert, und zwar ALLE Gehirne. Multitasking durch mehrere Tabs, Programme, neben her Livestream schauen oder Skypen. Die Konzentration auf eine EINZELNE Sache entfällt zunehmend. Wie üblich werden manche Leser jetzt aufschreien: "Ich lese auch am Smartphone und Desktop-PC lange Texte, dort kann man leichter scrollen." Auf wen trifft das alles zu? Journalisten sind auf schnell verfügbare Informationen angewiesen, auf Recherche. Sie müssen lesen, in anderen Jobs muss man das nicht, da sind Zeitungen bloßer Zeitvertreib. Lange Texte sind dann anstrengend, dafür reicht die Energie nicht mehr - wie diese Statistik beweist. Gleichzeitig sind es derzeit die Journalisten, die unter dem digitalen Neuland, das Zeitungen vor fünfzehn Jahren betraten, am meisten leiden. Der Printsektor, der das Geld einbringt, schwächelt. Die Folge sind Einsparungen beim Personal. Mehr Texte in kürzerer Zeit, was sich auf die Recherchequalität niederschlägt.

Meldungen wiederholen sich

Ich bin kein Journalist, ich mag nicht in ein Detail gehen, mit dem ich mich nicht auskenne. Eines ist aber für jeden leicht zu beobachten, und war früher nur mit größerem finanziellen Aufwand nachprüfbar: Sobald eine Presseagenturmeldung erscheint, findet sie dutzende Abnehmer. Nun macht sich aber kaum noch ein Journalist die Mühe, den Wahrheitsgehalt dieser Meldung zu überprüfen, sie wird häufig eins zu eins übernommen. Was die Presse schreibt, steht auch im Standard, im Kurier, wird in der Krone vielleicht noch ausgeschmückt und in der Wienerzeitung um einen Absatz gekürzt abgedruckt. Online oft nach wenigen Minuten vergleichbar: Identische, austauschbare Inhalte - das Wesen einer bestimmten Zeitung verschwindet. Grobe Fehler in der Zeitungsmeldung bemerken wir in der Regel nur in Gebieten, mit denen wir uns auskennen. Ich erkenne Fehler im naturwissenschaftlichen Bereich, besonders was Atmosphärenphysik (Wetterkunde) betrifft, oft schnell, und sehe hier auch bei *recherchierten* Artikeln häufig eine gewisse Schlampigkeit und bevorzugtes Aufsuchen der Wikipedia-Quelle, die nachweislich keine gute Quelle ist.

Minderheiten leiden unter schlechter Recherche besonders

Nun ist das mit falschen meteorologischen Erklärungen zwar aus Sicht eines Kenners ärgerlich, aber richtig unangenehm wird es erst, wenn sensible Themen nur angerissen, aber nicht kompetent durchdacht werden. Lange Texte sind aber notwendig, um ein komplexes Thema aus verschiedenen Perspektiven durchleuchten zu können. Ein komplexer Sachverhalt kann in fünf Sätzen höchstens angerissen, gefährlich vereinfacht, zugespitzt, satirisch überhöht oder schlimmstenfalls mit einseitiger Sichtweise dargestellt werden.

Ich greife als Beispiel Autismus heraus. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die mit einem ganzen Spektrum an Verhaltensauffälligkeiten einhergeht. Sie wird daher nach neuestem Kenntnisstand (DSM-V, ICD-11) auch Autismus-Spektrum-Störung genannt. Autismus kommt - wie in meinem vorherigen Artikel erläutert - in zahlreichen individuellen Erscheinungsformen daher, und Gefühlskälte ist ein Klischée, das oft nicht stimmt, muss man hier doch zwischen emotionaler und kognitiver Empathie unterscheiden. Dennoch werden bei jedem Amoklauf Pressemeldungen, die einen Autismus-Verdacht nahelegen, ungeprüft übernommen. Die Folge für Betroffene ist oft verheerend, da stigmatisiernd, Hetze und Isolation schürend. Ist es Journalisten egal, was sie mit ihren Texten bei denen anrichten, über die sie schnell ein paar *vermeintliche* Fakten zusammensuchen?

Ein anderes Beispiel sind Bettler. Gewisse Zeitungen werden nicht müde, gebetsmühlenartig von der Bettelmafia zu sprechen. Die Auswirkungen reichen von Bettelverboten, sehr strengen Bettelgesetzen bis hin zu steigenden Zweifeln bei vorbeilaufenden Passanten, ob es denn vernünftig sei, überhaupt etwas zu geben, da man damit bloß die (vermeintlichen) Hintermänner unterstütze. Dabei sieht die Realität ganz anders aus.

Nichtexistenz verschleiert Probleme

Andere Themen werden erst gar nicht oder nicht im notwendigen Ausmaß angesprochen: Barrierefreiheit, psychische Gesundheit, der dramatische Mangel an Psychotherapeuten, auch und v.a. für Kinder, die Situation in Krankenhäusern und Alten- oder Pflegeheimen, die weder für die Arbeitenden noch für die Patienten und Alten zumutbar ist. Entweder lese ich die falschen Zeitungen oder mir sind Schwerpunktausgaben in dieser Richtung noch nicht aufgefallen. Eine große mehrseitige Ausgabe, die sich seltenen Krankheiten widmet, vermeintlich seltenen wohlgemerkt. Eine regelmäßige Kolumne. Sensibilität für etwas schüren, das von der Politik zu selten oder gar nicht aufgegriffen wird. Was nicht angesprochen wird, ändert sich nicht. Was nicht repetierend ins Bewusstsein der Gesellschaft gehämmert wird, existiert nicht.

Unsere Verantwortung als Leser 

Letzendlich tragen auch wir Leser eine Verantwortung - wir beeinflussen durch unser Leseverhalten die Qualität der Texte mit. Die Gratis-Mentalität wird keinen qualitativ hochwertigen Journalismus hervorbringen, der Leser ist offenbar nicht geneigt, diesen zu bezahlen. Der niederländische 'The Correspondent' hat es dagegen geschafft - hier dürfen nur Abonnenten lesen. Wenn wir nur mehr kurze Texte verkraften, wird auch der Inhalt nur mehr oberflächlich ankommen. Manches ist eben nur durch Ausschweifungen zu verstehen, das müssen wir akzeptieren. Ausschweifungen bedeuten für den Artikelschreiber mehr Rechercheaufwand, der bezahlt werden will. Wollen wir dies honorieren? Oder reicht es uns, wenn riesige Glückspielkonzerne unsere Lieblingssendungen und Wochenzeitungen finanzieren? Sich zwar unabhängig geben, inhaltliche Kritik zulassen, aber gleichzeitig Werbung für tausende Leser und Millionen Zuhörer werden, was die Aufklärung ad absurdum führt. Genauso verhält es sich mit politischen Inseraten, die Zeitungen am Leben erhalten, aber die Blattlinie wie das Fähnchen im Wind beeinflussen.

In Österreich noch viel mehr als in Deutschland ist der Boulevardsektor so dominant, dass sensible, qualitativ hochwertige und vor allem ausführliche Berichterstattung schwierig ist. Brennende und vor allem kritisch aufbereitete Themen erreichen nur ein Bruchteil der potentiellen Wähler, die die politische Landschaft zu mehr sozialer Gerechtigkeit hin verändern können. Das ist ein Dilemma, mit dem ich hier leben muss. Aber ich werde nicht müde, darauf hinzuweisen.

Viewing all articles
Browse latest Browse all 209

Latest Images

Trending Articles