Wie alles begann
Vergangenes Jahr begann ich in Twitter hineinzuschnuppern, weil ich es satt hatte, über meine eigenen Vorurteile zu stolpern. Mein 3-Tages-Aufenthalt auf Facebook fiel ziemlich ernüchternd aus, und wenn ich jetzt sehe, wie sich Layout und Nutzerfreundlichkeit entwickelt haben, weine ich dem raschen Abgang keine Träne hinterher. Bei Twitter war es ebenso wie auf Facebook erst einmal die Qual der Wahl - wen kennt man eigentlich, dem man folgen möchte?
Bewusst wollte ich in Facebook Bekannten nicht folgen, weil sich so vis-a-vis Gespräche erübrigen und der Gesprächsstoff beim nächsten Treffen noch weiter reduziert wird, weil man ohnehin alles voneinander erfährt. Das ist der gravierende Nachteil von Web 2.0: Die Kommunikation wird pausenlos und zugleich oberflächlicher - sozusagen auf die Bildschirmoberfläche beschränkt.
Suchtgefahr
Aus jahrelanger Erfahrung kenne ich den Suchtfaktor von Social Media sehr gut, egal ob das Chats (mittlerweile am Aussterben), ICQ, Skype (kaum noch genutzt), Foren (teilweise von Facebook ausgesaugt) oder eben die klassischen Netzwerke wie Facebook und Twitter sind. Medizinisch sagt man auch nichtstoffliche Sucht dazu. Studien haben längst belegt, dass nichtstoffliche Süchte dieselbe oder sehr ähnliche Symptome und Entzugserscheinungen wie stoffliche Süchte (Alkohol, Heroin, etc...) hervorrufen können.
In den vergangenen zehn Jahren hat sich eine merkwürdige Entwicklung vollzogen, von wenigen, versprengten Suchtnerds zu einer Masse von Süchtigen, deren Sucht gesellschaftsfähig geworden ist. So wie Alkohol immer noch gesellschaftstauglich ist, wird keiner stigmatisiert, der zu brüllen anfängt, weil der Akku seines Smartphones leer ist.
Wie viele von uns trauen sich noch, ihr Handy nachts auszuschalten, oder generell auszuschalten? Da das Handy nicht nur die Uhr ersetzt, sondern auch Kalender, Straßenkarte, Nachrichtenportal, Restaurantfinder, etc..., besteht kaum noch ein Grund, nicht online zu sein. Die tägliche Werbung in Radio und Fernsehen bombardiert uns mit den neuesten Entwicklungen von Tablets und Smartphones, die alles zum Ziel haben, nur das nicht: es auch einmal auszuschalten.
Zerstreuung ist zwar wichtig für die Brutstätte geistiger Kreativität, aber während der Zerstreuungsphasen kann sich unser Geist gar nicht erholen, gar nicht in die Ferne schweifen - er ist gefangen im Käfig ständiger Reizüberflutung, und sei es das Phantom-Vibrieren in der Hosentasche. Die Phasen der Langeweile sind durch die Dauervernetztheit eliminiert.
Echtzeitjournalismus?
So verhält es sich auch mit Twitter. Nach ein paar Tweets und wachsender Followerzahl fühlt man sich geradezu verpflichtet, ständig ein paar Tweets abzusondern und verirrt sich manchmals aufgrund der Tiefenunschärfe in den labyrinthartigen Schleifengewinden des Gehirns.
Die unmittelbare Reaktion auf einen Tweet hat mit Journalismus nichts zu tun.
Wie in diesem Artikel beschrieben, schließen sich Echtzeitjournalismus und Tiefe aus wie der Teufel das Weihwasser meidet.
Ich schreibe diese Zeilen als Wissenschaftler, nicht als Journalist. Doch wir haben mindestens eines gemeinsam: Recherche und Faktengenauigkeit sind für uns essentiell. Deswegen verteufele ich das Turbo-Studium dank der Bologna-Reform, das die Studierenden nicht die notwendige Ruhe zum Abstand gewinnen lässt. Das mag in wenigen Studiengängen eine geringere Rolle spielen als in anderen. Für die Grundlagenforschung ist Turbo tödlich!
Twitter hat die Reaktion auf laufende Ereignisse beschleunigt, fungiert als Liveticker zu aktuellen Entwicklungen - nicht immer mit sinnvollen Ergebnissen:
Beim Anschlag von Boston wurden Bilder und Videos gezeigt, die die Menschenwürde verletzt haben, bei Obamas Besuch in Berlin hat man sich an Banalitäten aufgehangen und bei der PRISM-Enthüllung ist der Aufenthaltsort des Enthüllers spannender als das kaum fassbare Ausmaß der Enthüllung selbst.
Profil und Profilierung
Die Selbstdarstellung auf Twitter wird von der Reichweite unterschätzt. Zu Beginn sind die Leserzahlen begrenzt, doch mit jedem Retweet verbreitet sich das Geschriebene wie ein Schneeballeffekt. Besonders, wenn der Retweetende viele Follower besitzt. Mit der steigenden Follower- und Retweetzahl wächst die Verantwortung für das Geschriebene, sowohl in der Außendarstellung (Tweets für alle sichtbar, in Google auffindbar) als auch hinsichtlich des Empfängers. Denn eine dumme Äußerung, ein überflüssiger Tweet, eine Ungenauigkeit kann die Reputation mindern.
Partizipation trotz falscher Staatsbürgerschaft
Intelligentes Verhalten ist der eigenen Sache dienlich, kann etwa dafür sorgen, ein Anliegen bekannter zu machen. Migranten leben ohne Wahlrecht in einem Staat, ohne ihre Lebensumstände mitbestimmen zu dürfen. Manchmal verhindern auch äußere Umstände intensiveres Engagement in Organisationen oder Vereinen. Hier kann das Web 2.0 als Bindeglied fungieren und Mitwirkung zumindest verbal ermöglichen. Jeder Mensch im Internet wird zur sichtbaren Stimme, nur muss er den Wert seiner Sichtbarkeit beweisen.
Zusammenfassung
Twitter in Maßen genutzt kann einen echten Nutzen hervorbringen, es verbindet mit der Welt, sorgt für eine stärkere Auslese von Nachrichten statt im Wust an belanglosen Meldungen die Übersicht zu verlieren. Gute Journalisten auf Twitter kuratieren, ehe sie Artikel verlinken. Damit gelangen die Perlen zum Follower, nicht nur Belanglosigkeiten.
Der Suchtfaktor ist nicht zu unterschätzen. Die Fülle an interessanten Meldungen, aus allen Bereichen des Lebens, aus der Politik und nicht zuletzt über überregional bekannte Ereignisse (siehe Hochwasser in Mitteleuropa oder Proteste in der Türkei) erschwert die Offline-Phasen bei Twitter.
Noch wenig bedacht ist die Möglichkeit der Mitwirkung dank Twitter. Plötzlich kann man Politikern Fragen stellen, Journalisten Feedback auf ihre Artikel und Interviews geben oder zu Themen anregen, die es manchmal sogar bis ins Radio schaffen.
Vergangenes Jahr begann ich in Twitter hineinzuschnuppern, weil ich es satt hatte, über meine eigenen Vorurteile zu stolpern. Mein 3-Tages-Aufenthalt auf Facebook fiel ziemlich ernüchternd aus, und wenn ich jetzt sehe, wie sich Layout und Nutzerfreundlichkeit entwickelt haben, weine ich dem raschen Abgang keine Träne hinterher. Bei Twitter war es ebenso wie auf Facebook erst einmal die Qual der Wahl - wen kennt man eigentlich, dem man folgen möchte?
Bewusst wollte ich in Facebook Bekannten nicht folgen, weil sich so vis-a-vis Gespräche erübrigen und der Gesprächsstoff beim nächsten Treffen noch weiter reduziert wird, weil man ohnehin alles voneinander erfährt. Das ist der gravierende Nachteil von Web 2.0: Die Kommunikation wird pausenlos und zugleich oberflächlicher - sozusagen auf die Bildschirmoberfläche beschränkt.
Suchtgefahr
Aus jahrelanger Erfahrung kenne ich den Suchtfaktor von Social Media sehr gut, egal ob das Chats (mittlerweile am Aussterben), ICQ, Skype (kaum noch genutzt), Foren (teilweise von Facebook ausgesaugt) oder eben die klassischen Netzwerke wie Facebook und Twitter sind. Medizinisch sagt man auch nichtstoffliche Sucht dazu. Studien haben längst belegt, dass nichtstoffliche Süchte dieselbe oder sehr ähnliche Symptome und Entzugserscheinungen wie stoffliche Süchte (Alkohol, Heroin, etc...) hervorrufen können.
In den vergangenen zehn Jahren hat sich eine merkwürdige Entwicklung vollzogen, von wenigen, versprengten Suchtnerds zu einer Masse von Süchtigen, deren Sucht gesellschaftsfähig geworden ist. So wie Alkohol immer noch gesellschaftstauglich ist, wird keiner stigmatisiert, der zu brüllen anfängt, weil der Akku seines Smartphones leer ist.
Wie viele von uns trauen sich noch, ihr Handy nachts auszuschalten, oder generell auszuschalten? Da das Handy nicht nur die Uhr ersetzt, sondern auch Kalender, Straßenkarte, Nachrichtenportal, Restaurantfinder, etc..., besteht kaum noch ein Grund, nicht online zu sein. Die tägliche Werbung in Radio und Fernsehen bombardiert uns mit den neuesten Entwicklungen von Tablets und Smartphones, die alles zum Ziel haben, nur das nicht: es auch einmal auszuschalten.
Zerstreuung ist zwar wichtig für die Brutstätte geistiger Kreativität, aber während der Zerstreuungsphasen kann sich unser Geist gar nicht erholen, gar nicht in die Ferne schweifen - er ist gefangen im Käfig ständiger Reizüberflutung, und sei es das Phantom-Vibrieren in der Hosentasche. Die Phasen der Langeweile sind durch die Dauervernetztheit eliminiert.
Echtzeitjournalismus?
So verhält es sich auch mit Twitter. Nach ein paar Tweets und wachsender Followerzahl fühlt man sich geradezu verpflichtet, ständig ein paar Tweets abzusondern und verirrt sich manchmals aufgrund der Tiefenunschärfe in den labyrinthartigen Schleifengewinden des Gehirns.
Die unmittelbare Reaktion auf einen Tweet hat mit Journalismus nichts zu tun.
Wie in diesem Artikel beschrieben, schließen sich Echtzeitjournalismus und Tiefe aus wie der Teufel das Weihwasser meidet.
"Der Abstand fehlt,die Distanz als Grundvoraussetzung einer jeden guten Analyse."Es fehlt der Abstand, das Geschriebene sacken zu lassen und zu reflektieren, den Wahrheitsgehalt zu prüfen und an einer Gegendarstellung zu arbeiten.
Ich schreibe diese Zeilen als Wissenschaftler, nicht als Journalist. Doch wir haben mindestens eines gemeinsam: Recherche und Faktengenauigkeit sind für uns essentiell. Deswegen verteufele ich das Turbo-Studium dank der Bologna-Reform, das die Studierenden nicht die notwendige Ruhe zum Abstand gewinnen lässt. Das mag in wenigen Studiengängen eine geringere Rolle spielen als in anderen. Für die Grundlagenforschung ist Turbo tödlich!
Twitter hat die Reaktion auf laufende Ereignisse beschleunigt, fungiert als Liveticker zu aktuellen Entwicklungen - nicht immer mit sinnvollen Ergebnissen:
Beim Anschlag von Boston wurden Bilder und Videos gezeigt, die die Menschenwürde verletzt haben, bei Obamas Besuch in Berlin hat man sich an Banalitäten aufgehangen und bei der PRISM-Enthüllung ist der Aufenthaltsort des Enthüllers spannender als das kaum fassbare Ausmaß der Enthüllung selbst.
Profil und Profilierung
Die Selbstdarstellung auf Twitter wird von der Reichweite unterschätzt. Zu Beginn sind die Leserzahlen begrenzt, doch mit jedem Retweet verbreitet sich das Geschriebene wie ein Schneeballeffekt. Besonders, wenn der Retweetende viele Follower besitzt. Mit der steigenden Follower- und Retweetzahl wächst die Verantwortung für das Geschriebene, sowohl in der Außendarstellung (Tweets für alle sichtbar, in Google auffindbar) als auch hinsichtlich des Empfängers. Denn eine dumme Äußerung, ein überflüssiger Tweet, eine Ungenauigkeit kann die Reputation mindern.
Partizipation trotz falscher Staatsbürgerschaft
Intelligentes Verhalten ist der eigenen Sache dienlich, kann etwa dafür sorgen, ein Anliegen bekannter zu machen. Migranten leben ohne Wahlrecht in einem Staat, ohne ihre Lebensumstände mitbestimmen zu dürfen. Manchmal verhindern auch äußere Umstände intensiveres Engagement in Organisationen oder Vereinen. Hier kann das Web 2.0 als Bindeglied fungieren und Mitwirkung zumindest verbal ermöglichen. Jeder Mensch im Internet wird zur sichtbaren Stimme, nur muss er den Wert seiner Sichtbarkeit beweisen.
Zusammenfassung
Twitter in Maßen genutzt kann einen echten Nutzen hervorbringen, es verbindet mit der Welt, sorgt für eine stärkere Auslese von Nachrichten statt im Wust an belanglosen Meldungen die Übersicht zu verlieren. Gute Journalisten auf Twitter kuratieren, ehe sie Artikel verlinken. Damit gelangen die Perlen zum Follower, nicht nur Belanglosigkeiten.
Der Suchtfaktor ist nicht zu unterschätzen. Die Fülle an interessanten Meldungen, aus allen Bereichen des Lebens, aus der Politik und nicht zuletzt über überregional bekannte Ereignisse (siehe Hochwasser in Mitteleuropa oder Proteste in der Türkei) erschwert die Offline-Phasen bei Twitter.
Noch wenig bedacht ist die Möglichkeit der Mitwirkung dank Twitter. Plötzlich kann man Politikern Fragen stellen, Journalisten Feedback auf ihre Artikel und Interviews geben oder zu Themen anregen, die es manchmal sogar bis ins Radio schaffen.