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Warum ich zur "Pass egal -Wahl" ging

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Die "Pass egal"-Wahl war keine repräsentative Wahl - das konnte sie auch gar nicht sein, denn um 835 000 Migranten, die keinen österreichischen Pass besitzen, zu vertreten, reichen 600 "Pass egal"-Wähler nicht aus. Jedoch gibt sie ein Stimmungsbild in der nichtösterreicherischen Bevölkerungsschicht Österreichs wieder - immerhin haben Menschen aus 67 verschiedenen Ländern teilgenommen!

Sind 600 viel oder wenig? Dafür, dass nur in Wien ein Wahlzelt aufgebaut wurde, nur zwischen 15 und 20 Uhr gewählt werden konnte und die mediale Präsenz vergleichsweise dürftig war, ja. Ich war einer von ihnen.

Die Reportage mit Video von Olja Alvir und Siniša Puktalović zeigt eines auf: 

Die Diskussion um ein Wahlrecht für Migranten geht über die Staatsbürgerschaft hinaus, denn es gibt auch Migranten, die nicht einmal mehr in ihrem Heimatland wählen dürfen. Weiters ist das heutige Wahlrecht in Österreich nicht mehr zeitgemäß, sind doch die Zeiten vorbei, als man sein Leben an dem Ort verbrachte, wo man aufwuchs. Den Menschen soll Mobilität und Flexibilität erleichtert werden - das war auch der Grundgedanke der missglückten Bachelor-Master-Reform. Dass man dadurch Jahre in einem anderen Land verbringt und mitunter dort sogar bleiben möchte, hat auch einen veränderten Anspruch an politische Mitbestimmung zur Folge. Dieser wird im aktuellen Wahlrecht, das an den Verlust der ursprünglichen Staatsbürgerschaft gekoppelt ist, nicht berücksichtigt. 

Nicht nur geht es hier um den Verlust, sondern auch um die lange Wartezeit, bis man überhaupt um die österreichische Staatsbürgerschaft ansuchen darf. Bisher waren das zehn Jahre; im neuen Staatsbürgerschaftsgesetz sind es zwar nur sechs Jahre, aber Einkommensgrenze und weitere Hürden (wie etwa hier ausgeführt) können weiterhin zu einer viel längeren Wartezeit führen. Eine Wartezeit, die immerhin mindestens einer, wenn nicht zwei Legislaturperioden entspricht. 

Meiner Ansicht sollte man das Wahlrecht von der Staatsbürgerschaft entkoppeln und eine Mindesthauptwohndauer verlangen, um Missbrauch auszuschließen. Drei Jahre sollten ausreichen, um sich - sofern das Interesse denn besteht - in das neue politisch-gesellschaftliche System in Österreich einzufinden und sich ein Bild von den Parteien zu machen. Nein - wir Migranten mögen die Vergangenheit mancher Parteien nicht beurteilen können, weil wir hier nicht (immer) aufgewachsen sind, aber das können sechzehnjährige Wähler auch nicht. Im Regelfall zeigt das Gebahren im Wahlkampf, in (öffentlich übertragenen) Nationalratsitzungen und die ein oder andere Entgleisung in (a)sozialen Medien deutlich, welch Geistes Kind Parteien sind. 

Darüberhinaus bedeutet der Besitz der Staatsbürgerschaft nicht zwangsläufig, sich mit der Geschichte Österreichs gut auszukennen. Was sind das für Werte, zu denen man sich für das Wahlrecht bekennen muss?
Ich betrachte mich als "kritisch-loyalen" Migranten, der die "Nächstenliebe" in einem Kreuze verteidigenden Staat vermisst, ja sie sogar von Rechts ad absurdum geführt sieht, der christliche Werte vermisst, wenn es um Menschenrechte, um Barrierefreiheit, um Gleichstellung der Frau, um das Asylgesetz geht. Ich sehe die Werte nicht, auf die sich Österreich rühmt, stolz zu sein. Hier bestehen Werte der Nächstenliebe aus Reduzierung von Migranten auf ihre Herkunft- ein beliebter Alltagsrassismus übrigens. 
"Woher kommen Sie?"
"Aus Wien."
"Sie sind aber nicht wirklich aus Wien? Kommen Sie aus Deutschland?"
Nein, aus der Mongolei - möchte man manchmal am liebsten antworten, wenn in der rhetorischen Frage die Priorität der Herkunft impliziert ist.

Im Wahlkampf regiert die Diktatur der Nützlichkeit, wie Olja Alvir analysiert - für wirtschaftliche Zwecke sind Migranten genug, aber gebt ihnen bloß kein Wahlrecht. Einerseits wird direkte Demokratie gefordert, um das Volk entscheiden zu lassen; auf der anderen Seite schließt man ein Fünftel des Volks aus, wenn es um auch um die Zukunft dieses Teils der Bevölkerung geht, das hier in Österreich brav Steuern und Sozialabgaben zahlt, die kulturellen Einrichtungen nährt und Kinder in die Welt setzt. 

Ich ging daher zur "Pass egal"-Wahl, um ein Zeichen für mehr Demokratie zu setzen - für den Willen der politischen Mitbestimmung, für meine Zukunft.

Bild 1: Anfangs waren die Polizisten direkt vor dem Wahlzelt versammelt, als täte man hier etwas Ungesetzliches. Zwei Polizeibusse links und rechts flankierten den Ort. Erst später, als sich das Wahlzelt füllte, zog sich die Polizei zurück und hielt sich zunehmend im Hintergrund.
Bild 2: Der prominenteste "Pass egal"-Wähler, Dirk Stermann, im Interview mit "DaStandard"-Journalistin Olja Alvir.  
Bild 3: Hier wird der Sprecher von SOS Mitmensch, dem Initiator der Wahl, interviewt.
Der ausgesuchte Standort am Minoritenplatz hat für mich doppelt symbolischen Charakter. Nicht nur befindet er sich vor dem Innenministerium, das für das Wahlrecht verantwortlich zeichnet, sondern bedeutet Minorit wortwörtlich Minderheit (bzw. "der Kleinere"). Wobei hier gilt: pars pro toto - 600 für 835 000.

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