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Twitter: Segen oder Fluch?

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In Anlehnung an das Buch von Kathrin Passig und Sascha Lobo (" Internet - Segen oder Fluch?"), das ich bald lesen werde, beginne ich mein Zwischenfazit nach 3 Monaten Twitter-Zugehörigkeit mit einer dialektischen Betrachtung.

Einige Monate vorher schrieb ich einen kritischen Blog-Beitrag zur Lese- und Rechtschreibschwäche der - von mir so titulierten - 'Twitter-Generation''. Nun ist generell unseriös, über ein Thema zu berichten, oder ein Schlagwort aus einem Bereich heranzuziehen, in dem man sich nicht auskennt. Mein Blog-Kollege vom Quergedachtem beschwert sich zurecht über die oft unreflektiert eingesetzte Verwendung des Begriffs "Autismus", der von Außenstehenden oft und zu Unrecht mit "Gefühlskälte", "Inselbegabung" und "unfähig, zu kommunizieren" gleichgesetzt wird.

Mein Fauxpas war es, Twitter als Ausdruck der jungen Generation gleichzusetzen, die die schriftliche Kommunikation zunehmend verlernt. Ich bin weiterhin der Überzeugung, dass Handy- und Internetkommunikation zu inflationär auftretender Legasthenie bei jungen Menschen beiträgt - die Internetforen legen dazu beredtes Zeugnis ab, und ein Mangel an korrektem Satzbau, Satzzeichen und Rechtschreibung ist nicht nur auf 'Faulheit' zurückzuführen, sonst sitzt tiefer bzw. wird antrainiert durch die ''kurz angebundene'' Art zu schreiben (SMS, Facebook). Auch in Facebook war ich bereits registriert, trat aber nach 3 Tagen Zugehörigkeit und 60 'neuer' Freunde rasch wieder aus - schlicht wegen dem Overload an mehr oder weniger relevanten Informationen.

''Quot erat demonstrandum''

, dachte ich - in meiner ideologischen Verteufelung der Neuen Medien bekräftigt.

Am 21. November 2012 begann ich aus derselben Neugierde, weswegen ich Facebook beitrat, mit einem Twitter-Account und sammelte ebenso rasch people to follow ("aktiv"), wie ich damals in Windeseile Freunde in Facebook bekam.

Die Funktionsweise von Twitter ist denkbar simpel: Jemand schreibt mit dem Zeichensatz einer SMS (140 Zeichen + 20 fixe Zeichen für den Namen) etwas auf seiner Timeline (TL), das alle Follower lesen können. Soweit unterscheidet sich Facebook nicht von Twitter. Twitter bietet jedoch - meiner persönlichen Auffassung nach - ein paar Vorteile gegenüber Facebook:

Begrifflichkeit

Mir gefällt das neutrale Follower besser als das wertende Freund. Ich finde es befremdlich, Freunde in gute, schlechte und entfernte Freunde, aufzuteilen, die nur unterschiedliches von meinem Profil sehen dürfen. 

Kondensation

Der Zeichensatz zwingt zu gehaltvollen Sätzen, und sogar dazu, seine Ausdrucksfähigkeit zu trainieren, um in wenigen Sätzen die Botschaft zu transportieren, wofür der Tweet geschrieben wurde.

Zugriff 

Ich weigere mich immer noch gegen ein Smartphone, obwohl ich damit Twitter nicht nur lesen, sondern auch in Tweets enthaltene Bild- und Textlinks anklicken könnte. Das erlaubt das Betriebssystem meines jetzigen Handys nicht, ich kann aber gehaltvolle Sätze und Informationen etwa von den Wiener Linien dennoch lesen und auch darauf antworten. Der Grund für die hartnäckige Resistenz gegenüber dem, was bereits die meisten Personen besitzen, ist die Abhängigkeit vom Medium Internet. Ganze Artikel auf dem kleinen Handydisplay zu lesen würde meine Beobachtungslust in der Natur und auf dem Weg zur Arbeit schmälern, ich wäre gefesselt an den technischen Fortschritt und seine unendlichen Möglichkeiten des modernen Mobiltelefons.

Übersichtlichkeit 

Im Gegensatz zu Facebook wird nicht andauernd an einer neuen Darstellung der TimeLine gebastelt, und der Nutzerkreis ist zwar riesig, aber das, was man sieht, ist deutlich überschaubarer. Ich habe meine fixe Anzahl an Leuten, denen ich folge, werde aber nicht von Werbung torpediert. Anfragen von Spam- und Werbeaccounts lassen sich schnell und unkompliziert blocken.

Aktualität

Dies ist Luxus und entbehrlich, denn - wie Armin Wolf in seinem Buch "Wozu brauchen wir noch Journalisten?" trefflich beschrieb - "wichtige Nachrichten werden einen finden". Sich etwa durch die Wiener Linien die Pünktlichkeit und etwaige Unpässlichkeit von öffentlichen Verkehrsmitteln anzeigen zu lassen, ist purer Luxus. Vor 20 Jahren sind die Menschen auch nach Hause oder zur Arbeit gekommen. Einen Artikel muss ich nicht unterwegs lesen, sondern kann dies auch daheim oder am nächsten Tag in der Zeitung - dann vielleicht schon etwas besser rercherchiert als mit der ersten Agentur/Twitter-Meldung.

Kurator statt ''gate keeper''


Armin Wolf schreibt über den Journalismus im Internet-Zeitalter, eine ausführliche Rezension und Zusammenfassung folgt hierzu auf meinem Literaturblog. Eine wichtige Erkenntnis möchte ich nicht vorenthalten:

Früher agierte der Journalist als 'gate keeper' - welche Informationen werden zum Leser durchgelassen?
Heute haben die Leser Zugang zu allen Informationen, sind aber nicht mehr in der Lage, zu entscheiden, was für ihn wichtig und was unwichtig ist " - Keine Überlastung durch Informationen (die gab es mit Erfindung des modernen Buchdrucks bereits seit dem 15. Jahrhundert), sondern schlichtes Filterversagen. Und hierfür ist der professionelle Journalist zuständig, als Kurator entscheidet er, welche Informationen für den Leser erhöhte Aufmerksamkeit verlangen.

Daher folge ich besonders vielen Journalisten, die - wenn sie einen guten Job machen - mir jene Informationen - etwa Links zu Artikeln - weitergeben, die aus dem Wust an Informationen qualitativ herausragen. Da ich keinen Fernseher besitze, fungiert Twitter für mich als Ersatz-Nachrichtenportal.

Publizieren

Durch Twitter lassen sich auch unpopuläre Themen, etwa die Belange von Minderheitengruppen, an eine große Zielgruppe verbreiten. So lässt sich mehr Öffentlichkeit erreichen als durch Reportagen, die ins Nachtprogramm verschoben werden, oder in Zeitungen einen verschwindend geringen Platz einnehmen.
Ein aktuelles Beispiel sind die Blogger-Tage vom Querdenkenden zum Thema #EinfachSein - Behinderungen, Medien und die Gesellschaft

Im Nachhinein stehe ich dem Kommunikationswerkzeug Twitter positiver gegenüber als zuvor. Wie mit allem im Leben gilt auch hier der Leitspruch:
„Dosis sola facit venenum.“ (Allein die Dosis macht das Gift.)
Darüber hinaus darf man nicht Gefahr laufen, nur jenen zu folgen, deren Meinung man teilt, da man sonst in die Falle filter bubble gerät, d.h. immer weniger Themen oder Ansichten begegnet, die man noch nicht kennt. Darum:
"Audiatur et altera pars.“ (Man höre auch die andere Seite)
Und last, but not least
„Es wäre eine Schande, wenn menschliche Wesen den ganzen Tag nur noch vor dem Computer
sitzen würden. Außerdem wäre es paradox, denn Technologie sollte da sein, um uns länger am
Leben zu erhalten, nicht, um ein weniger erfülltes Leben zu führen.“ 
(Quelle: http://www.fuzo-archiv.at/artikel/1629401v2 )

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