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Kritische Betrachtung der Hashtagaktion #NotJustSad

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Dieser Text ist eine Antwort auf eine kritische Auseinandersetzung mit der Hashtagaktion #NotJustSad, bei der Betroffene schildern, wie sich Depressionen anfühlen und wie die Mitmenschen darauf reagieren.

Ich bin KEIN Psychologe, diese Antwort ist bloß meine freie Meinungsäußerung. Ich zitiere nicht alle Passagen, sondern nur jene, die ich als kommentierwürdig empfinde.

Der Teaser, d.h. der anreißende Text vor dem eigentlichen Artikel ist, wie die Autorin inzwischen betont hat, nicht von ihr, verkürzt demnach und greift auch ziemlich daneben:
Geshartes Leid ist halbes Leid - denken Twitternutzer, und tauschen sich unter dem Hashtag "notjustsad"über ihre Depressionen aus. Das ist leichter als eine Therapie, und zudem nur bedingt hilfreich. 
Leid verschwindet nicht, in dem man Gleichgesinnte findet, aber es wird erträglicher, wenn man es hinausbrüllen kann. Als Ersatztherapie geht es vielen Betroffenen gar nicht, zumal diese Aussage suggeriert, Betroffene befänden sich gar nicht in der Therapie noch streben sie keine an. Beides ist zumindest teilweise falsch und auch nicht den Betroffenen anzulasten, wenn generell ein Mangel an Therapieplätzen besteht, die von der Kasse übernommen werden - was weiter unten im Artikel auch erwähnt wird.

Das ist allerdings eine Behauptung:
Nicht selten finden sich hier relativ feste Gruppen meist selbstdiagnostizierter Betroffener zusammen, die einander ein offenes Ohr und Unterstützung schenken.

Und weiter
Problematisch wird es erst, wenn die “Vorteile”, die mit dem Selbstbild und der Rolle als kranker Mensch einhergehen zu bequem sind, um sich auf den steinigen Weg der Besserung zu begeben.
Auch das suggeriert, dass die Teilnehmer bei der Hashtagaktion sich auf ihrer Depression ausruhen würden und nicht versucht hätten, sie zu überwinden. Ist mir zu pauschal.
Eine Gruppe gefunden zu haben, welche sich eben dadurch auszeichnet, dass man einander versteht, weil man gegen die gleiche Dunkelheit anzukämpfen hat, wenn auch in unterschiedlicher Erscheinung – das erleichtert nicht, die Krankheit loszulassen, denn was hat man dann noch? Vor allem Leere. 
Jein. Das ist eine Gefahr, die ich allgemein in Selbsthilfeforen sehe - man bekräftigt sich gegenseitig im Leid, man versteht sich, aber man findet keinen Ausweg. Das ist auch etwas, das viele Betroffene nicht wollen, jedenfalls nicht die 0815-Ratschläge, die Außenstehende geben. Was aber kann man auf einen Tweet antworten, wenn man die Lebensgeschichte und die Hintergründe nicht kennt? Richtig. Nichts. Man kann nur von sich erzählen, um zu zeigen, dass es einem ähnlich ergeht. Typisch für eine Depression ist außerdem, konkrete Ratschläge zurückzuweisen, selbst wenn sie realistisch umsetzbar sind, das ist vielleicht mit dem Unvermögen, loszulassen gemeint.
Wahrscheinlich erlebt man durch seine Onlinekontakte mehr Unterstützung als durch das sonstige soziale Umfeld, man hat sie ja schließlich nach diesem Kriterium ausgesucht, aber das Internet ist keine Couch und Tweets kein Therapieersatz. 
Das hat niemand behauptet und wie oben geschrieben - es ist legitim, sich nur Onlinekontakte auszusuchen, die keine 0815-Ratschläge wie "Reiß Dich mal zusammen!" - "Geh mal an die frische Luft." - "Lach mal wieder!" geben, oder "Geh doch in einen Sportverein!", wenn man gerade eine soziophobe Phase hat. 
Eine Therapie ist darauf angelegt, dass zwar eine vertrauensvolle, neue Beziehung zustande kommt, die vieles tragen kann, auch einen selbst in schwierigen Phasen, aber diese soll, muss und wird auch wieder enden. Geplant. Und zwar so, dass man stärker aus ihr hervorgeht als man vorher war. Zur Therapie gehört die Vorbereitung auf ihr Ende, das ist eine der Besonderheiten dieser Bindung.
Im Idealfall. In einem gebe ich Recht: Zwar mag die Gewissheit erleichtern, dass man nicht mit Depressionen alleine ist, aber stärkt diese Erkenntnis? Wahrscheinlich nicht, weil sie keinen Ausweg aufzeigt. In einer schwierigen Phase der Depression können die vielen Wortmeldungen, wie sich Depressionen individuell auswirken, sogar die Depression noch verstärken.
Stützt man sich stattdessen auf seine persönliche Online-Selbsthilfegruppe, so ist diese Beziehung gänzlich anderer Natur. Man hat schließlich aufgrund seiner Krankheit zusammengefunden, man fühlt sich zum ersten Mal nicht allein, wie will man dieser dann den Rücken kehren? Woher soll die Motivation und Kraft kommen, das vereinende Element zu fallenzulassen? Wenn man die Anstrengung unternimmt, die Depression loszuwerden, verliert man auch etwas, eine Art von Sicherheit und vielleicht auch einen Teil der eigenen Identität.
 Das hängt wohl auch ein wenig davon ab, welche Ursachen Depressionen haben, und ob die Depression eine Ko-Morbidität einer anderen Grunderkrankung ist, über die man zusammengefunden hat. 
Bei der Menge an Blogposts von Personen, die plötzlich wussten, was mit ihnen los ist, muss das Internet zu 99,7% von Menschen bevölkert sein, die eine psychiatrische Diagnose haben. Der Weg zu dieser wird beschrieben, als habe sich plötzlich der Himmel geöffnet und ein Engel Halleluja gesungen, bis dann im gleißenden Licht der Sonne schließlich das passende Label herabgesegelt sei, welches man nun für sich akzeptieren darf. Endlich weiß man, wer man ist.
Da möchte ich den Ball zurück an die Psychologen spielen, denn diese sind auch im DSM-V noch immer in der Diagnose von Symptomen verkrampft, statt nach biologischen Ursachen zu suchen. Die Forschung wäre soweit, dass wir Symptome und Biologie verbinden könnten.
Psychology needs to become biologically-oriented. We have this wonderful discipline, but one where people seem to be doing the same thing over and over again, especially with the many verbal and pencil and paper approaches. Psychology departments have very few people that really understand the way the brain operates, and that is a great shortcoming of the area. If we all knew much more about the brain, we would be able to help kids with problems, as well as adults with problems, much better. We could finally become a solid science.
(Jaak Panksepp)

Wenn also zahlreiche Menschen eine psychiatrische Diagnosen suchen, dann, weil label-locked thinking ihnen das vorlebt - dass Menschen nur geholfen werden könne, wenn sie eine bestimmte Diagnose haben, und dann möglichst nach Schema F, weil ohnehin im gleichen Topf sitzen. Zudem unterstellt die obige Polemik, (wenigstens ein Teil) die Betroffenen hätten nicht schon einen langen Leidensweg hinter sich und sich ausgiebig damit beschäftigt, was ihnen fehlt.  
Auch ist es modern geworden, sich selbst eigentlich als “krank” besetzte Eigenschaften zuzusprechen, um etwas zu beschreiben, was sich noch im Normbereich bewegt und keinesfalls mit Leiden verbunden ist.
Das Hineinsteigern in vermeintlich vorhandene Symptome ist sicherlich eine generelle Gefahr im Internet, die auch körperliche Erkrankungen miteinschließt, und dass man immer den schlimmstmöglichen Fall annimmt. Die Nachteile der 140-Twitter-Zeichen bestehen darin, dass ein einzelner Tweet zwar ein Symptom einer Depression beschreiben kann, dieses Symptom für sich genommen aber entweder im Normbereich liegt oder erst in der Summe und Dauer mit anderen Symptomen zum Syndrom wird, zur Depression. Das lässt sich aber aus einzelnen Tweets nicht herauslesen, insofern ist Twitter nur bedingt geeignet, darüber zu schreiben (und aufgrund von Tweets zu urteilen), Blogs viel eher.
Die neuen psychisch Kranken sind die empfindsamen Künstler, die das Internet mit ihren tiefschürfenden Gedanken vollschreiben und auf Instagram die dazugehörige düstere Illustration kreieren, nicht diese verlorenen Leute, die im Winter barfuß und mit leerem Blick durch die Stadt laufen oder manchmal neben uns im Bus sitzen und anscheinend grundlos schreien, sabbern und schlecht riechen und allen unangenehm sind. An die denken wir nicht.
Das ist erneut polemisch ausgedrückt, und konterkarikiert die Kritik am Pauschalisieren, die transportiert werden soll. Natürlich werden unter den selbstdiagnostizierten Twitter-Usern und Bloggern Menschen sein, die keine Diagnose haben, deren Selbstdiagnose falsch ist. Nur lässt sich das pauschal nicht so sagen, nur wenn man sie selbst befragt.
Es geht nicht darum, jemandem seine Beeinträchtigung abzusprechen, weil sie nicht “ausreichend schlimm” sei. Belastung ist subjektiv und zur Diagnostizierung einer psychischen Störung gehört in der Regel, dass die Person darunter leidet, aber nicht jede leidende Person ist psychisch krank. Schlechtere Phasen gehören zum Leben dazu und vieles geht von selbst vorbei. Falls nicht, sollte man allerdings nicht zögern, sich professionelle Hilfe zu suchen. Gedanken wie zum Beispiel „für eine Therapie nicht krank genug zu sein“, eben weil es anderen vielleicht noch schlechter geht, sollte man beiseite schieben. Therapeuten können das schon selbst einschätzen. 
Umgekehrt leidet auch nicht jede diagnostizierte Person ununterbrochen, sondern hat auch ihre guten Phasen. Die Begrifflichkeit um Störungen, Depressionen einmal ausgenommen, suggeriert jedoch oft, dass Menschen, die nicht offensichtlich leiden oder ständig leiden, gar keine Diagnose haben können oder dürfen, obwohl sie vielleicht die gleichen genetischen oder neurologischen Ursachen haben, nur in sehr unterschiedlicher Ausprägung.
Und egal, wie gut man googeln kann oder wie viele Follower man hat, das Internet wird niemals eine Therapie ersetzen können.
Wie bereits gesagt - ich empfand die Erfindung und Verwendung der #NotJustSad-Aktion nicht als Therapie-Ersatz, sondern um jenen Menschen die Stimme zu geben, die bisher über ihre seelischen Leiden geschwiegen haben. Völlig unabhängig davon, ob eine Diagnose dieses absichert oder ist. Es geht in der Hashtag-Aktion vielfach auch darum, wie das Umfeld reagiert, es geht mehr um Störungen durch das ignorante, empathielose Umfeld als um die Störung selbst. Ich denke, die Aktion sollte vor allem zeigen, dass wir gegenseitig mehr aufeinander Acht geben sollten, aufeinander schauen, und nicht bei jedem Verhalten, das unerwartet kommt, gleich den schlimmstmöglichen Grund anzunehmen.

Wenn ich Depressionen unter dem Gesichtspunkt Komorbidität betrachte, dann sehe ich auch das Schreiben in Selbsthilfeforen oder auf Blogs und Twitter differenzierter. Wer sich generell schwer tut, mit Menschen zu interagieren und zu kommunizieren, der hat es meist auch in einer Therapie schwieriger, zumal es nur sehr wenige echte Spezialisten gibt, und möglicherweise schon schlechte Erfahrungen gesammelt oder keinen Fortschritt in der Therapie erlebt. Die Therapie findet aber in den meisten Fällen im *real life* statt, wo gerade jene Kommunikationsfähigkeiten gefragt sind, die je nach Veranlagung oder Trauma nicht oder nicht mehr gegeben sind. Die Frage ist für mich also vielmehr, wie die Psychologen an diese Minderheit, sofern es sich um eine solche handelt, herankommen will. Und da geht es allgemein um mehr Kassenplätze, um mehr Spezialisten und vor allem auch um Fortbildung, wenn man etwa bedenkt, dass veraltete Therapieformen bei Autismus immer noch zum Einsatz kommen, und mitunter mehr Schaden als Nutzen anrichten.

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